
„SARS-CoV-2 hat gezeigt, wozu Coronaviren in der Lage sind“
Prof. Dr. Friedemann Weber leitet das Institut für Virologie im Fachbereich Veterinärmedizin an der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU). Innerhalb des Forschungsnetzes Zoonotische Infektionskrankheiten ist er Teil des Verbundes „Risk Assessment in Prepandemic Respiratory Infectious Diseases“ – kurz: RAPID. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Auseinandersetzung mit pathogenen RNA-Viren und deren Interaktion mit dem angeborenen Immunsystem.
Das Middle East Respiratory Syndrome, kurz MERS, der anfängliche Forschungsgegenstand von RAPID, steht schon länger auf einer WHO-Liste, die die gefährlichsten Infektionskrankheiten der Welt aufzählt, ebenso wie SARS. Jetzt hat mit SARS-CoV-2 ein bis dato unbekanntes Coronavirus zu einer Pandemie geführt. Hat MERS-CoV ebenfalls das Potenzial, eine solche Pandemie auszulösen?
SARS-CoV-2 zeigt deutlich, dass man Coronaviren nicht unterschätzen sollte. Dennoch sieht es im Fall von MERS-CoV nicht danach aus, dass es pandemisch werden könnte. Zwischenwirt ist das Kamel, aber MERS-CoV ist scheinbar weniger ein Generalist, was das Spektrum an Wirtsorganismen angeht, als SARS-CoV-2. Das MERS-Virus ist ja bereits seit fast zehn Jahren bekannt und hat seitdem keine Tendenzen gezeigt, bedeutend an Infektiosität oder Immunsescape zuzunehmen. MERS tritt bislang eher sporadisch auf.
Liegt dies auch daran, dass eine Übertragung des Erregers von Kamel zu Mensch effizienter zu sein scheint als eine Übertragung von Mensch zu Mensch?
Gut möglich, ja. Mensch-zu-Mensch-Übertragungen haben hauptsächlich im klinischen Umfeld stattgefunden. Aber auch der Weg vom Kamel auf den Menschen ist nicht besonders effizient. MERS-CoV ist ein hochinteressantes Virus, jedoch nur ein Schatten von dem, was SARS-CoV-2 angerichtet hat. SARS-CoV von 2003 und auch MERS-CoV hatten angedeutet, wozu Coronaviren in der Lage sind, SARS-CoV-2 hat es uns schließlich gezeigt. Es war also absolut richtig, einen Forschungsverbund aufzubauen, der sich mit Coronaviren befasst. Christian Drosten, der den Verbund konzipiert hatte und auch koordiniert, hat schon früh die Notwendigkeit erkannt, entsprechende Strukturen zu entwickeln.
Kann Ihre Forschung bzw. die Forschung im Verbund RAPID dazu beitragen, eine eventuelle zukünftige Pandemie zu verhindern oder abzumildern?
Mit Beginn der Pandemie hat sich RAPID sofort von MERS-CoV auf SARS-CoV-2 als Forschungsgegenstand umgestellt. Aus diesem Netzwerk heraus sind zahlreiche wichtige Studien entstanden. Wir konnten sehr schnell untereinander Erfahrungen und Ergebnisse austauschen. Damit wurde das bereits bestehende RAPID-Netzwerk direkt in der Pandemie genutzt. Im Hinblick auf zukünftige Pandemien, die durch respiratorische Viren ausgelöst werden könnten, ist mit unserem Netzwerk die Infrastruktur, um schnell reagieren zu können, bereits vorhanden.
MERS-CoV hat also gewissermaßen geholfen …
MERS-CoV war für uns das beste Beispiel für ein präpandemisches respiratorisches Coronavirus, denn SARS-CoV von 2003 wurde ja erfolgreich eliminiert. Anhand von MERS-CoV hat unser Verbund die Strukturen aufgebaut, in die SARS-CoV-2 dann gleich nach Auftauchen wie in eine Pipeline in die verschiedenen Arbeitsbereiche eingefüttert werden konnte. Nicht ohne Grund nennt sich unser Verbund RAPID, was ja auch eine Anspielung auf die schnelle Reaktionsfähigkeit ist.
Wie ist der Verbund aufgebaut?
Unser Verbund hat im Prinzip ganz grob folgenden Aufbau: In einer Arbeitsgruppe werden Virusvarianten charakterisiert, wobei im Vordergrund steht, was genau diese Varianten unterscheidet und welche Mutationen besonders wichtig sind. Dann gibt es auf der einen Seite einen Arm mit Arbeitsgruppen, die die Viren molekularbiologisch aufschlüsseln, also die Frage angeht wie das Virus in der Zelle funktioniert. Untersucht werden hier die Interaktionen zwischen dem Virus und den verschiedenen Zellproteinen. Wenn das Zielprotein für die antivirale Abwehr wichtig ist, kann man hiervon ausgehend bereits sehen, inwiefern das Virus sich aggressiv verhalten könnte. Darüber hinaus ist das Wissen um diese Interaktionen auch wichtig im Hinblick auf Therapeutika, die diese Interaktionen dann stören können. Auf der anderen Seite gibt es einen Arm mit Arbeitsgruppen, die sich mit den Zellreaktionen beschäftigen.
Während wir in unserer Arbeitsgruppe Forschung mit definierten Zelllinien betreiben und molekularbiologisch vorgehen, untersuchen andere beispielsweise Mischkulturen aus Zellen respiratorischer Epithelien, v.a. aus der Lunge, oder man rekonstituiert aus Stammzellen sogenannte Lungenorganoide und infiziert diese. Eine weitere Gruppe beschäftigt sich mit Impfungen. Der Aufbau unseres Verbundes erfolgte also von der Wirtsseite her. Man könnte somit jedes beliebige Virus in den Verbund geben und würde relativ schnell Daten erhalten.
Womit beschäftigt sich Ihre Arbeitsgruppe?
Jeder im Verbund hat sein Spezialgebiet. In unserer Gruppe ist das der körpereigene Botenstoff Interferon. In den Zellen veranlasst Interferon, dass Gene eines antiviralen Programms hochgefahren werden. Je nach Virus sind unterschiedliche Genprodukte zu dessen Abwehr wichtig. Wir nehmen nun diese angeborene Immunantwort so weit wie möglich auseinander, um die Reaktion des Virus auf einzelne Genprodukte anzuschauen und zu vergleichen. Dadurch können wir eine Art Profil von einem Virus erstellen und definieren, gegen welches antivirale Genprodukt es empfindlich ist. Für verschiedene Influenzavirusstämme und auch MERS-CoV-Stämme haben wir dies bereits durchgeführt. Aktuell wenden wir unsere Methode auf SARS-CoV-2 an.
Und Interferon spielt bei einer Infektion eine wichtige Rolle…
Ja, auch bei diesem Virus schüttet der infizierte Körper Interferon und andere Botenstoffe aus. Dabei kann es zu einer Überreaktion des Immunsystems kommen, die schwere Verläufe zur Folge hat. Dazu muss man aber wissen, dass bei pathogenen Viren eine solche Überreaktion immer verzögert kommt. Bestimmte viralen Strukturen, im klassischen Fall doppelsträngige RNA, werden von Sensoren der Zelle erkannt. Doppelsträngige RNA kommt in einer normalen, „gesunden“ Zelle nicht in großen Mengen vor, so dass deren plötzliches Auftreten also direkt auf eine Infektion hinweist. Viren haben aber Gegenmaßnahmen entwickelt, um dennoch unentdeckt zu bleiben. Coronaviren verstecken beispielsweise ihre doppelsträngige RNA in Membranvesikeln. Damit ist sie für die Sensoren der Zelle zunächst nicht sichtbar. Im Laufe der Infektion platzen diese Vesikel auf oder aber im Zytoplasma wird schließlich doch doppelsträngige RNA hergestellt. Das Virus wird dann detektiert, und löst eine Interferonantwort aus.
Und dann kann es auch zu einer Überreaktion des Immunsystems kommen?
Wenn ein Virus recht gut darin ist, sich vor der Interferon-Antwort zu verstecken oder sie ganz abzuschalten, dann hat dieses Virus einen enormen Startvorteil. Bei SARS-CoV-2 genügen schon geringe Mengen für eine Infektion, und in der Folge steigt die Virusmenge steil an, ohne dass wir uns direkt krank fühlen. Schließlich aber erkennt das Immunsystem die Infektion. Die Viruslast wird vermindert, die Immunantwort nimmt aber dennoch weiter zu. Ein Virus, was sich zu Beginn gut versteckt hat, wird von den Immunzellen nun überall erkannt, es hat sich ja bereits im Körper ausgebreitet. Es kann zu einer massiven Ausschüttung von Botenstoffen kommen. Interferon ist spezialisiert auf eine direkte antivirale Antwort. Andere Botenstoffe (Zytokine) locken darüber hinaus vermehrt Immunzellen an. Durch die starke Reaktion kann es als Folge zu Gewebeschäden, wie etwa der Lunge, kommen. Die Infektion flog also zunächst unter dem Radar bis dermaßen hohe Viruslasten entstanden sind, dass die Infektion sichtbar wird. Schlagartig reagiert die Zytokinantwort und eskaliert.
Bei der Spanischen Grippe vermutet man diesen Zytokinsturm als Hauptgrund für den aggressiven Verlauf….
Auch bei SARS-CoV-2 beobachtet man diesen Zytokinsturm. Inwieweit das geschädigte Lungengewebe eine direkte Folge des Virus ist oder durch die überschießende Immunantwort verursacht wird, ist noch nicht endgültig geklärt. Hinzu kommen Schäden am Herz-Kreislaufsystem und anderen Organen, denn COVID-19 ist auch eine Gefäßerkrankung. Momentan ist nicht klar, ob die Gefäße direkt durch das Virus geschädigt werden oder die Zytokine und die Immunantwort verantwortlich sind. In der Therapie werden ja bereits immundämpfende Präparate eingesetzt. Dass diese den Krankheitsverlauf verbessern können, zeigt, dass die überschüssige Immunreaktion eine Rolle spielt.
Welche Forschungsvorhaben stehen bei Ihnen an?
Im Fokus stehen immer zoonotische Viren und deren Interaktion mit dem Interferonsystem. Was sich in unseren Arbeiten schon länger herauskristallisiert hat, ist, dass jedes Virus seine eigene Lösung gefunden hat um die Interferonantwort zu bekämpfen. SARS-CoV-2 vergleichen wir dabei mit SARS-CoV, und haben bereits einige Unterschiede gefunden.
Haben Sie ein Beispiel?
Wir sehen zum Beispiel, dass SARS-CoV-2 kurioserweise in einer bestimmten Lungenzelllinie eine ziemlich deutliche Interferonausschüttung aktiviert. Dies bedeutet, dass die viralen Anti-Interferon-Strategien hier nicht gut funktionieren. Wenn wir Zellen derselben Linie mit dem SARS-CoV von 2003 infizieren, wird hingegen kein Interferon induziert. SARS-CoV ist also effizienter als SARS-CoV-2. Hier haben wir gewissermaßen den Fuß in der Tür und können untersuchen, was genau den Unterschied zwischen diesen beiden verwandten Viren ausmacht.
Ist die Interferon-Ausschüttung ein Faktor für Fallsterblichkeit?
Bei SARS-CoV liegt die Fallsterblichkeit bei ca. zehn Prozent, bei SARS-CoV-2 wahrscheinlich bei ca. einem Prozent. Die unter bestimmten Umständen schnellere Interferon-Ausschüttung nach SARS-CoV-2-Infektion könnte zu diesem Unterschied beitragen. Das ist momentan aber pure Spekulation, denn die Letalität wird durch zahlreiche Faktoren beeinflusst.
Welche Fragen, die zu einem besseren Verständnis von humanen Coronaviren beitragen, sind noch offen und werden innerhalb des Verbunds erforscht?
Von der Delta-Variante wissen wir: Sie ist infektiöser. Doch warum genau ist sie das? Diese Frage ist nicht wirklich geklärt. Oder: Bei SARS-CoV waren die Infizierten erst ansteckend, nachdem sie auch Symptome wie z.B. Fieber hatten. Unter anderem deshalb konnten Infektiöse einfach mit Wärmebildkameras identifiziert und Infektionsketten unterbrochen werden. Bei SARS-CoV-2 jedoch ist man schon infektiös, bevor sich Symptome entwickeln. Wie schafft SARS-CoV-2 das? Das ist eine der großen Fragen, die es zu beantworten gilt.
Das Interview führte Christoph Kohlhöfer.